Dysgnathie-OP: Wenn die Zahnspange allein nicht reicht
17. Mai 2022Wenn ein Fehlbiss sehr stark ausgeprägt ist, hilft manchmal nur eine Operation in Kombination mit einer kieferorthopädischen Behandlung. Wie sie genau abläuft, wer sie braucht und welche Alternativen es gibt.
Dysgnathie-Operation: Was ist das?
Liegt nicht nur eine Fehlstellung der Zähne, sondern auch der Kiefer vor, spricht man von einer Dysgnathie. Ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene – jeder kann von solch einem angeborenen oder erworbenen Fehlbiss betroffen sein. Die Kieferanomalien können dabei nicht nur die Gebissfunktion negativ beeinflussen, sondern auch das Gesichtsprofil. Während des Wachstums können die meisten Dysgnathien allein durch kieferorthopädische Maßnahmen erfolgreich korrigiert werden. Nur bei einer ausgeprägten Dysgnathie ist eine kieferorthopädisch-kieferchirurgische Kombinationstherapie nötig: also eine Zahnspange in Kombination mit einer Dysgnathie-OP.
Ist das Körperwachstum und mit ihm die Entwicklung des Gesichtsschädels abgeschlossen, kann eine rein kieferorthopädische Behandlung bei bestimmten Kieferfehllagen ebenfalls an ihre Grenzen stoßen. Wenn die skelettalen Abweichungen zu stark ausgeprägt sind, können diese bei „ausgewachsenen“ Patienten nur noch erfolgreich behandelt werden, wenn die KFO-Therapie mit einer kieferchirurgischen Operation einhergeht.
Wer übernimmt bei einer Dysgnathie-OP die Kosten?
Kieferorthopädisch-kieferchirurgische Kombinationsbehandlungen werden in der Regel erst nach dem 18. Lebensjahr begonnen. Lassen sich die Fehllagen hierbei bestimmten Indikationsgruppen (KIG) zuordnen, sind sie Bestandteil des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkassen und die Krankenkasse beteiligt sich an den Kosten. Dies ist z. B. bei einem stark ausgeprägten Überbiss, einer Progenie oder einem offenen Biss der Fall.
Kieferorthopädische Diagnostik ist das A & O
Erwachsene, die sich für eine kombinierte Therapie entscheiden, stehen meist im Berufsleben und für sie ist das Zeitmanagement und der Ablauf der Therapie besonders wichtig. Voraussetzung für die exakte Diagnoseerstellung ist eine ausführliche kieferorthopädische Diagnostik. Nach Auswertung der diagnostischen Unterlagen wird ein medizinisches Behandlungskonzept durch den Kieferorthopäden erstellt, das der gesetzlichen Krankenkasse (GKV) zur Genehmigung vorgelegt werden muss. Zusätzlich erfolgt die Untersuchung und Beurteilung durch einen Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen vor Behandlungsbeginn. Die Stellungnahme des Chirurgen ist gleichzeitig Voraussetzung für die Genehmigung bei der Krankenkasse (GKV). Meist werden die Unterlagen zusätzlich von einem Gutachter beurteilt.
Kombinationsbehandlung umfasst drei Phasen
Grundsätzlich ist Therapie dabei in drei Phasen eingeteilt. Im ersten Schritt erfolgt die kieferorthopädische Vorbehandlung (1 bis 2 Jahre) meist mit einer festen Zahnspange. Diese dient vor allem der (teils umfangreichen) Korrektur von Zahnfehlstellungen und dem Ausformen der Zahnbögen. Nach erneuter Zwischendiagnostik erfolgt die exakte Planung der Operation in Absprache mit dem Kieferchirurgen und die Vorbereitung für die Kieferoperation. Meist werden sogenannte OP-Bögen mit kleinen Häkchen in die feste Zahnspange integriert.
Im zweiten Schritt wird die Operation von einem Facharzt für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie durchgeführt. Diese kann ambulant erfolgen oder mit einem Klinikaufenthalt verbunden sein. Über das genaue Vorgehen entscheidet der Kieferchirurg und die Operationstechnik. Dabei wird entweder die Position eines Kiefers oder Ober- und Unterkiefer gleichzeitig operativ verlagert.
Sobald die Schwellung nach der Operation abgeklungen ist und der Patient den Mund gut öffnen kann, beginnt die dritte Phase zur postoperativen Feineinstellung. Sofort nach der Operation müssen die Patienten Gummizüge einhängen, um das Ergebnis der Operation zu stabilisieren. Wenn Kiefer und Zähne optimal zueinanderpassen, kann die feste Zahnspange entfernt werden. Allerdings muss die Situation langfristig mit festen Retainern und herausnehmbaren Zahnspangen oder Schienen stabilisiert werden. Postoperative physiotherapeutische, osteopathische oder logopädische Maßnahmen unterstützen die Umprogrammierung der Muskulatur und helfen, das Behandlungsergebnis zu sichern.
Surgery First als alternativer Therapieansatz
Neben dieser 3-Phasen-Behandlung mit kieferorthopädischer Vorbehandlung, Operation und kieferorthopädischer Nachbehandlung gibt es auch einen alternativen Ansatz. Statt mit der KFO-Therapie mit der festen Zahnspange beginnt man hier mit dem chirurgischen Eingriff (Surgery First) und im Anschluss beginnt die eigentliche kieferorthopädische Therapie.
Interdisziplinäre Teamwork ermöglicht beste Ergebnisse
Um ein optimales Gesamtergebnis zu erzielen, müssen Kieferorthopäde und Kieferchirurg eng zusammenarbeiten. Nach der gemeinsamen Planung der individuellen Therapie stimmen sie ihr jeweiliges Vorgehen detailliert aufeinander ab. Heutzutage kann die operative Korrektur skelettaler Kieferfehllagen dank modernster digitaler Technik hochpräzise geplant werden. Neben 3D-Röntgenbildern mittels digitaler Volumentomografie (DVT) ist dabei auch der Eingriff komplett virtuell planbar.
Vor Beginn einer Kombinationsbehandlung müssen die Patienten detailliert aufgeklärt werden. Die Beratungsgespräche beim Fachzahnarzt für Kieferorthopädie sowie Kieferchirurgen basieren auf den vorliegenden Befundunterlagen und klären jeweils umfassend über die Risiken der geplanten kieferorthopädischen sowie operativen Maßnahmen auf.
Und was ist, wenn man partout keine OP will?
Wer trotz ausgeprägten Fehlbisses definitiv keine Dysgnathie-OP möchte, sollte mit dem Kieferorthopäden über alternative Therapiemaßnahmen sprechen. Durch eine Kompromissbehandlung kann die ausgeprägte Kieferfehllage zwar nicht wie bei einem chirurgischen Eingriff vollständig behoben werden. Sie kann aber zumindest teilweise kompensiert und vorliegende Beschwerden somit verbessert werden.
FAZIT
Durch eine Dysgnathie-Operation werden schwerwiegende Abweichungen der Kiefer korrigiert. Sie hat Einfluss auf die Funktion, Atmung und auch auf das Aussehen (Profil) der Patient:innen.
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